Eine Entscheidungshilfe in fünf Aspekten
Nachhaltige Fasern, wie etwa Tencel oder Viskose, versprechen Stil ohne Sünde. Was können diese Materialien wirklich? Und ist Bio-Baumwolle wirklich nachhaltiger als herkömmliche Baumwolle? Inspektorin Grün hat mit dem Leiter des Instituts für Chemie nachwachsender Rohstoffe an der BOKU, Thomas Rosenau, gesprochen und diese vier Materialien genauer unter die Lupe genommen.
Aus Cellulose gesponnen, unterschiedlich gewonnen
Eines haben die vier genannten Materialien gemein, erklärt Rosenau – nämlich deren Ausgangsstoff: Cellulose. Baumwolle besteht zu 100 Prozent aus Cellulose, man kann sie also direkt zu Fasern verarbeiten. Weltweit werden jährlich 26 Millionen Tonnen Baumwolle produziert. Massiver Einsatz von Pestiziden, hoher Wasserverbrauch, Kinderarbeit und die umstrittene Nutzung genveränderter Pflanzen haben Baumwolle jedoch in Verruf gebracht. Der Marktanteil von Bio-Baumwolle beläuft sich aktuell auf lediglich 0,49 Prozent.
Seit rund 100 Jahren kann der Mensch Cellulose auch aus Holz gewinnen und daraus in einem chemischen Verfahren Viskose machen. Dazu ist ein “chemischer Umweg nötig, der letztlich aber wieder zu reinen Cellulosefasern führt”, allerdings auch Chemikalien benötigt und Nebenprodukte erzeugt. Spricht man von “Modal”, so ist damit eine etwas aufwendiger produzierter Viskosefaser gemeint. Vergleichsweise neu ist das Lyocell-Verfahren, ein physikalischer Prozess der Cellulosegewinnung aus Holz. Was daraus entsteht, wird Lyocell oder auch Tencel genannt. Der Chemikalieneinsatz ist bei diesem Verfahren minimal. Weltweit werden rund sechs Millionen Tonnen Viskose und Modal hergestellt, der Anteil der vergleichsweise noch jungen Lyocell-/Tencelfaser liegt noch unter einer halben Million Tonnen.
Cellulose aus Holz – Gleich viel Abfall wie Ertrag
Der Haken an diesen Alternativen: Holz besteht nur zu zwischen 40 und 50 Prozent aus Cellulose, es fallen also Abfallstoffe an. Und diese kann man heute noch nicht wirklich verwerten, verrät uns Professor Rosenau: “98 Prozent des anfallenden Nebenprodukts Lignin gehen heute noch durch den Schornstein”. Es werde aber viel dazu geforscht, betont der Chemiker. Eine Idee: Die klebrige Masse, die übrig bleibt – im Fachjargon spricht man von “Black Liquor” –, könnte eines Tages viele Chemikalien ersetzen, die heute aus dem Erdöl kommen. Das ist aber eine andere Geschichte.
Cellulose aus Holz – Chemisch oder physikalisch gelöst
Welches Holz für die Cellulosegewinnung für Textilfasern verwendet wird, ist relativ egal. In Österreich sind es vor allem Buchen, in Südamerika wird oft Eukalyptus verwendet, in den USA Fichten oder Kiefern. Während Baumwolle also direkt verwendet werden kann, muss für Viskose oder Lyocellfasern das Holz in mehreren Schritten chemisch gespalten und in Cellulose verwandelt werden. “Man muss hier recht brachial vorgehen”, kommentiert Rosenau. Diese Cellulose liegt aber noch nicht als Faser vor (wie bei der Baumwolle) und muss erst “in Form gebracht” werden, was durch einen Spinnprozess passiert. Um die Cellulose spinnen zu können, muss sie aufgelöst werden.
Der Unterschied zwischen Viskose und Tencel liegt darin, wie die Cellulose aufgelöst wird und aus den Lösungen Cellulosefasern gewonnen werden. Das Viskoseverfahren ist ein chemischer Prozess. Die Herstellung von Tencel ist hingegen ein physikalischer Prozess, es wird also dabei kein giftiges Lösemittel benötigt. Das Abwasser, das durch den Prozess entsteht, kann wieder in den Wasserkreislauf zurückgeführt werden. Außerdem entstehen keine giftigen Dämpfe oder Umweltgifte.
Aber was kann Tencel wirklich?
Ist dieses Material tatsächlich die nachhaltigste Wahl? “Man muss immer den ganzen Prozess betrachten”, betont Rosenau, “und hier schneidet Tencel wirklich sehr gut ab”.
Aspekt #1: Mikroplastik
Grundsätzlich gilt: (Bio-)Baumwolle, Tencel und Viskose sind schon mal besser als synthetische Materialien. Fast ein Drittel des Meeres-Plastikmülls sind Textilfasern aus Polyester. Das sind jährlich in etwa 0,5 Millionen Tonnen Mikrofasern, die schlussendlich im Ozean landen. Während Polyester und andere erdölbasierte Materialien Mikroplastik verursachen und nicht biologisch abbaubar sind, können Fasern aus Cellulose kompostiert werden. Im Sommer 2019 wurde die biologische Abbaubarkeit in einer Studie von Tencel bestätigt.
“Im Meerwasser werden alle Cellulosefasern abgebaut”, klärt Rosenau auf. An Land schaut die Sache anders aus: Weil in Baumwolle oft noch Reste von Fungiziden und Pestiziden stecken, zerfällt sie recht langsam. Doch auch der Zerfall von reiner Cellulose geht nicht so schnell vonstatten, weiß Rosenau: “Das geht nicht von heute auf morgen. Da muss man nur an Bäume denken – es gibt auf dieser Erde Bäume, die 4.200 Jahre alt sind, Cellulose ist von Natur aus ein sehr starkes Material.” Für “Single-Use”-Anwendungen halte er kurzkettige Cellulose-Verbindungen, die sich schnell auflösen, aber durchaus für sinnvoll.
Weltweit wird weniger als ein Prozent der Kleidung recycelt und zur Herstellung neuer Kleidungsstücke verwendet, zum Teil wegen ungeeigneter Technologien. Das Amsterdamer Green-Fashion-Label Labfresh zeigt im Fashion-Waste-Index, dass alleine in Italien etwa 465.000 Tonnen Textilmüll produziert werden. In Österreich sind es 62.000 Tonnen – sieben Kilogramm pro Kopf.
Im Hinblick auf Mikroplastik und den Produktkreislauf fällt die Bilanz also durchwegs positiv aus. Doch obwohl bei der Herstellung von Baumwolle, Tencel und Viskose kein Mikroplastik anfällt, so verschmutzen sie die Umwelt doch – etwa durch Düngemittel im Fall von Baumwolle und CO2. Doch zuvor noch ein Wort zu einem der Hauptkritikpunkte.
Aspekt #2: Wasser
In die weltweite Textilindustrie sind im Jahr 2015 etwa 79 Milliarden Kubikmeter Wasser geflossen. Bis zu 2.700 Liter werden dabei für die Produktion eines einzigen T-Shirts aus Baumwolle benötigt. In einem Baumwollshirt stecken also zweieinhalb Jahre Trinkwasser für eine Person.
Etwas geringer ist der Wasserverbrauch bei Biobaumwolle: Denn Kleinbauern können durch die effizienteren Bewässerungsmethoden ein Wasserersparnis von bis zu 40 Prozent erreichen. Bei einem Shirt aus Tencel auf der Basis von Eukalyptus werden nur vier Liter verbraucht. “Meist finden wir bei der Cellulosegewinnung aus Holz – also sowohl bei Viskose als auch Tencel – geschlossene Wasserkreisläufe vor”, meint Rosenau, “das Einzige, was raus geht, ist Wasserdampf”.
Dennoch ist der Wasserverbrauch bei der Produktion eines Viskose-Shirts mit 128 Litern signifikant höher. Denn hier werden die Fasern in einem sogenannten Nassspinnverfahren bearbeitet. Dabei werden chemische Verbindungen verwendet, die in den Wasserkreislauf geraten. “Bei der Herstellung von Viskose kämpft man mit Chemie gegen die Natur”, erklärt Rosenau, “Holz ist von der Natur ja so optimiert, dass es sich gerade NICHT auflöst”, kommt er wieder auf die Resistenz zu sprechen.
Um Cellulose in eine spinnbare Form zu bringen, kommen Natronlauge und Schwefelkohlenstoff, ein neurotoxischer und explosiver Stoff, zum Einsatz. “Das Verfahren wurde über Jahrzehnte optimiert, es wird sehr gut beherrscht. Dennoch wäre es natürlich besser, wenn man solche potentiell gefährlichen Stoffe gar nicht bräuchte”, ist Rosenau der Meinung. Baumwolle kann zwar direkt gesponnen werden, hier kommt Gift aber schon früher zum Einsatz: Um in großen Monokulturen kräftige Pflanzen heranzuziehen, wird viel Dünger benötigt. In Anbaugebieten können Pflanzengifte im Trinkwasser sowie in Lebens- und Futtermitteln nachgewiesen werden – zusätzlich sind die Monokulturen eine große Gefahr für die Biodiversität.
Aspekt #3: Verschmutzung
Baumwolle gehört zu den Pflanzen, die am stärksten mit Pflanzenschutzmitteln aller Art behandelt werden. „Pro Saison wird Baumwolle durchschnittlich 20 Mal mit Ackergiften aller Art besprüht“, schreibt das Umweltinstitut München.
Der Baumwollanbau ist für zehn bis 20 Prozent des weltweiten Pestizideinsatzes verantwortlich – und das, obwohl der Anbau nur etwa 2,5 Prozent der weltweit genutzten Agrarflächen ausmacht. In Afrika gehen laut der deutschen Naturschutzorganisation Nabu 80 Prozent aller eingesetzten Pestizide in die Baumwollproduktion. Die Textilindustrie ist nach dem Ölsektor die Branche mit dem größten Anteil an der globalen Umweltverschmutzung.
Auch für die Herstellung von Viskose wird zwar viel Chemie benötigt, im Normalfall kommt es aber zu keinem Austritt. Rosenau bezieht sich auf die österreichische Firma Lenzing, die – wie er meint – in der Tencel- und Viskoseproduktion im internationalen Spitzenfeld liegt, und sagt: “Man riecht und sieht absolut nichts, da kann man von den Rohren essen”.
Tencel wird in einem Direktlöseverfahren gewonnen, das Lösemittel, das hier verwendet wird, ist nicht toxisch. Allerdings ist dieses Mittel bei Raumtemperatur fest – um damit zu arbeiten, muss man es auf 100 bis 110 Grad Celsius erwärmen, erklärt Rosenau. Und das kostet wiederum Energie.
Aspekt #4: CO2
Laut einer Untersuchung der britischen Ellen-MacArthur-Stiftung könnte die gesamte Textilindustrie bis 2050 für ein Viertel des klimaschädlichen CO2-Ausstoßes verantwortlich sein. Die Textilbranche produziert mehr CO2 als Schifffahrt und internationaler Flugverkehr zusammen. Nur durch Herstellung und Transport von Kleidung wurden im Jahr 2011 weltweit etwa 850 Millionen Tonnen CO2 verursacht – ein Drittel davon alleine in China.
Bei einem näheren Blick auf die Materialien zeigt sich: Weltweit verursacht der Baumwollanbau jährlich 220 Millionen Tonnen CO2. Auch die Herstellung von Viskose und Tencel ist energie- und somit emissionsintensiv.
Konsument:innen rät Rosenau, auf die Versprechen der Unternehmen im Hinblick auf deren Energiegewinnung zu achten. “Bei Lenzing gelingt das Kreislaufverfahren sehr gut”. Das Unternehmen will seine CO2-Emissionen pro Tonne Produkt bis 2030 im Vergleich zum Ausgangsjahr 2017 um die Hälfte reduzieren. Die Science Based Targets Initiative (SBTi) hat dieses Klimaziel von Lenzing wissenschaftlich abgesichert und genehmigt. Lenzings Tencel Fasern sind gemäß der Richtlinie des CarbonNeutral Protocol als Carbon- Neutral®-Produkte für die Textilindustrie zertifiziert.
Aspekt #5: Arbeitsbedingungen
Der Großteil der Kleidung, den die Österreicher:innen tragen, stammt aber nicht aus der Lenzing-AG, sondern aus Asien. China und Bangladesch zählen mit einer Gesamtimportsumme von etwa 10 Millionen Euro zu den wichtigsten Textilimportländern Österreichs.
Chinas Textilfabrik-Arbeiter:innen erhalten einen monatlichen Mindestlohn von 260 Euro und sind meist Wanderarbeiter:innen, die vor Ort nur eingeschränkte Bürgerrechte besitzen. Der Textilsektor, der in Bangladesch in den vergangenen Jahren das Ziel zahlreicher auch internationaler Initiativen war, ist in Dhaka einer der größten Arbeitgeber für Kinder. Zwei Drittel der arbeitenden Mädchen aus den Slums der Hauptstadt sind demnach dort beschäftigt.
99 Prozent der Baumwollbauern leben in Entwicklungsländern und produzieren 75 Prozent der weltweiten Baumwollernte. Der Pestizideinsatz macht viele Bauern krank und das Einkommen reicht in den meisten Fällen gerade zum Überleben. Der Anbau von Biobaumwolle ermöglicht hingegen den kompletten Verzicht auf synthetische Pestizide. Neben dem Bioanbau gibt es inzwischen noch weitere Programme, die die Bedingungen im Baumwollanbau verbessern wollen. So verbieten FAIRTRADE, „Cotton made in Africa” oder die „Better Cotton Initiative” in unterschiedlichem Umfang bestimmte hochgefährliche Pestizide.
Allerdings stammt laut dem deutschen Umweltbundesamt erst ein Prozent der weltweiten Baumwolle nachprüfbar aus ökologischem Anbau. Dazu kommt: Eine Studie der „Changing Markets Stiftung“ kam zu dem Ergebnis, dass durch die Produktion von Viskose unter unzureichenden Arbeits- und Umweltschutzbedingungen ebenfalls gravierende Schäden entstehen: So führe stundenlange Arbeit umgeben von Chemikalien und Dämpfen nicht nur bei den Arbeiter:innen vor Ort zu erheblichen gesundheitlichen Schäden. Auch die Bewohner:innen, der den Fabriken angrenzenden Regionen, sind in den oftmals armen Herstellerregionen betroffen. Rund 83 Prozent der Viskoseproduktion ist heute in China, Indien und Indonesien zu verorten.
Experten-Fazit: Tencel ist die Faser der Zukunft
Für Rosenau ist Tencel die umweltfreundlichste Faser – und auch vielseitig einsetzbar. “Abgesehen von einigen wenigen Spezialfasern kann man alle textilen Stoffe aus Tencel herstellen”. Lyocell punkte nicht nur in Sachen Nachhaltigkeit, sondern sei zudem “extrem angenehm zu tragen”.
Allerdings, so Rosenau, sei der Stoff noch teuer und über die Jahre “extrem schlecht beworben worden”. Viele wüssten gar nicht, was Tencel ist. Es werde momentan mit Hochdruck an der vielversprechenden Faser geforscht. Man sucht zum Beispiel nach neuen, noch umweltverträglicheren Lösungsmitteln für Cellulose und nach besseren Spinntechnologien.
Wissenschaftlicher Fortschritt müsse aber in jedem Fall mit einem Sinneswandel der Menschheit einhergehen. Denn “Fast Fashion” hat unser Verhältnis zu Kleidung grundlegend verändert. Jedes Jahr werden rund 56 Millionen Tonnen Kleidung verkauft. In Europa hat sich die Menge der erworbenen Kleidungsstücke in den vergangenen 20 Jahren verdoppelt. Während Mitte des vergangenen Jahrhunderts ein Drittel des Haushaltsbudgets für Kleidung ausgegeben wurde, sind es heute nur mehr fünf Prozent. “Und Polyester ist einfach immer noch unschlagbar billig”, seufzt Rosenau. Dennoch ist er optimistisch: “Der allgemeine Trend geht ganz klar hin zu nachwachsenden Materialien”.
Thomas Rosenau forscht und unterrichtet an der Universität für Bodenkultur Wien zu Holzfaserchemie, Chemie und Nachhaltigkeit. Er hat einen großen Beitrag zur Grundlagenforschung im Hinblick auf den Lyocell-Prozess, Celluloselösungen und Fasermaterialien geleistet. Sein Institut war 2019 der Gewinner der internationalen “Green Chemistry Challenge” der Royal Society of Chemistry.
Foto: Antje Potthast